A. Düben: Die Emslandlager in den Erinnerungskulturen 1945–2011

Cover
Titel
Die Emslandlager in den Erinnerungskulturen 1945–2011. Akteure, Deutungen und Formen


Autor(en)
Düben, Ann Katrin
Reihe
Berichte und Studien (85)
Erschienen
Göttingen 2022: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
David Reinicke, Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, Celle

In den letzten Jahren sind wieder vermehrt wissenschaftliche Publikationen zu den Emslandlagern und ihrer Nachgeschichte erschienen. Neben dem Ausstellungsbegleitband der Gedenkstätte Esterwegen und Bianca Roitschs Arbeit zum Umfeld von NS-Zwangslagern1 beschäftigt sich Ann Katrin Düben in ihrer Dissertation nun erstmals dezidiert mit dem Thema der Erinnerungskultur.

In Anlehnung an Jan Assmann benennt Düben „die Frage nach der gesellschaftlichen Deutung des gewaltsamen Todes und welche Deutungskonflikte dahinterliegen“ als zentral für ihre Studie (S. 14). Die daran anschließenden Hypothesen dürfen in der Forschung als etabliert gelten: dass Erinnerungskultur erstens ein sich wandelnder Prozess mit einer Vielzahl beteiligter Akteure ist und sich zweitens auf einen historischen Gegenstand und die ihm zugemessene Bedeutung bezieht. Die dritte Hypothese verweist hingegen auf den Kern der Arbeit: dass regionale Eigenheiten „in widerstreitenden Erinnerungskulturen sichtbar und greifbar“ werden; im Emsland vor allem anhand katholisch geprägter Obrigkeitsvorstellungen, die „regionalen Trägern eine besondere Autorität zusprachen und gegen die sich gleichsam eine besonders starke Gegenbewegung formierte“ (S. 15).

In einer differenzierten theoretischen Auseinandersetzung mit dem Begriff der Erinnerungskultur plädiert die Autorin dafür, diesen im Plural zu verwenden, da er „in einer komplexen Gesellschaft […] immer eine Vielzahl umfasst“ (S. 21). Der dafür zugrunde gelegte Akteursbegriff ist hingegen sehr eng, wenn „gerade im ländlichen Raum die Eliten als Akteure“ begriffen werden (S. 25). Gleichzeitig bleibt die Abgrenzung von „Erinnerungskultur“ zu den andockenden Feldern von „Geschichts- und Erinnerungspolitik“ denkbar knapp.

Der Untersuchung der Erinnerungskultur zwischen 1945 und 2011 in vier jeweils zweigeteilten Hauptkapiteln ist in Kapitel II ein Rückblick auf die komplexe Geschichte der Emslandlager vorangestellt (S. 37–70). Diesen Teil beginnt Düben innovativ, indem sie die Einbindung der Lager in ein groß angelegtes Siedlungsprojekt verdeutlicht. Der Arbeitseinsatz in der Moorkultivierung sollte gleichermaßen der „Erziehung“ der Gefangenen wie auch einer Erschließung der strukturschwachen Region dienen. Von vier 1933 eingerichteten Konzentrationslagern ausgehend entwickelte sich ein Komplex aus zunächst sieben, ab 1939 dann fünfzehn Emslandlagern. Die meisten Standorte wurden ab 1934 als Strafgefangenenlager genutzt, die neun südlichsten mit Beginn des Zweiten Weltkriegs als Kriegsgefangenenlager, zwei davon 1944/45 schließlich als KZ-Außenlager. In den Strafgefangenenlagern wurden von „regulären“ Gerichten Verurteilte inhaftiert. Die Autorin zeigt jedoch, „dass angesichts einer politisierten Justiz die Unterscheidung zwischen kriminellen und politischen Gefangenen verschwimm[t]“ (S. 61). Auf die „brutale Haft- und Strafpraxis“ (S. 55f.) durch die SA-Wachmannschaften geht sie leider nur am Rande ein, obwohl diese – unabhängig von einer eventuellen „Rechtmäßigkeit“ der Verurteilung – den zentralen Verbrechenskomplex der Strafgefangenenlager darstellt.

Mit dem dritten Kapitel beginnt der eigentliche Untersuchungsteil, zunächst zur „frühe[n] Kultur des Erinnerns“ bis 1950 (S. 71–128). In der nun einsetzenden Zweiteilung der Hauptkapitel wird eine Vielzahl an Themenkomplexen vorgestellt. Im ersten Teil zu „Ausdrucksformen alliierter Erinnerungskulturen“ (S. 72) sind dies frühe Richtlinien zum Totengedenken, die Anlage und Gestaltung von Friedhöfen im Emsland, britische Strafermittlungen gegen ehemaliges Lagerpersonal, drei darauffolgende Prozesse und die Presseberichterstattung darüber sowie eine Konfrontation der Zivilbevölkerung mit den Verbrechen als „strafpädagogische Maßnahme[.]“ (S. 98).

Demgegenüber stehen im zweiten Abschnitt „(Um-)Deutungen der jüngsten Vergangenheit“ (S. 102) durch die deutsche Bevölkerung: die Stigmatisierung von Displaced Persons seitens der Lokalbevölkerung (durch eine polnisch verwaltete Sonderzone im Emsland mit besonderer Dynamik), Unwissenheit vortäuschende Gemeindevertreter bei einer Suchaktion des International Tracing Service, die Stilisierung mutmaßlicher NS-Täter im Internierungslager Esterwegen „als ‚politische Häftlinge‘“ (S. 117) sowie die Fortführung der Kultivierungsarbeiten, für die zunächst weiter Strafgefangene (wenn auch unter geänderten Bedingungen) eingesetzt wurden.

Der anschließende Zeitraum von 1950 bis 1962 wird in Kapitel IV als „Streit über den Gräbern“ dargestellt (S. 129–180). Der Umgang mit Friedhöfen erscheint hier als „zentrales kommunales und staatliches erinnerungskulturelles Handlungsfeld“ (S. 131). Während NS-Verfolgte, deutsche Soldaten und zivile Kriegstote „in einem nivellierenden Opferbegriff auf[gingen]“ (S. 133), wurden Strafgefangene im Kriegsgräbergesetz von 1952 nicht explizit genannt. Durch deren Charakterisierung als von einer „ordentlichen“ Justiz verurteilte „Kriminelle“ betrieben lokale Funktionsträger aktiv eine „erinnerungskulturelle Marginalisierung“ (S. 142f.) und strebten die Auflösung der Gräber von Strafgefangenen nach 20 Jahren an.

Diesen Verdrängungsversuchen tritt im zweiten Kapitelteil ab 1956 die „Emsland-Lagergemeinschaft Moorsoldaten“ entgegen. Dieser vorwiegend durch kommunistische Häftlinge geprägte Überlebendenverband wird allerdings nicht als Herausforderung der lokalen Narrative analysiert, sondern in seiner Abgrenzung zu anderen Gruppen ehemaliger Gefangener betrachtet. Im Zugehörigkeitskriterium, aktiven Widerstand geleistet zu haben, sieht die Autorin eine „klare Distanzierung von den ‚Kriminellen‘ […], um den überlegenen Status des Widerstandskampfes zu verteidigen“ (S. 164). Da Strafgefangenen und Kommunisten der Ausschluss von Entschädigungsleistungen drohte, wäre hier eine ergänzende Interpretationslinie wünschenswert gewesen, die die Lagergemeinschaft im Versuch ihrer Anerkennung als NS-Opfer betrachtet, zumal die Arbeit selbst Beispiele liefert, in denen die „Moorsoldaten“ auch „nicht-politische“ Strafgefangene als Opfer benannten und Kooperationen mit anderen Akteuren suchten.

Das fünfte Hauptkapitel über den Zeitraum 1962–1973 (S. 181–222) beginnt mit dem Auftreten neuer Akteure als Folge des generationellen Wandels. Nachdem sich schon zuvor einzelne politische und zivilgesellschaftliche Akteure für eine stärkere Erinnerungsarbeit eingesetzt hatten, konfrontierten in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre vor allem zwei junge Redakteure der „Ems-Zeitung“ ihre Leserschaft mit der Lagergeschichte und dem Schweigen darüber. Während lokale Eliten die Aufarbeitung vehement ablehnten, begannen jüngere Emsländer vereinzelt, sich mit der regionalen Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Nach der Novellierung des Kriegsgräbergesetzes 1965 waren auf den Lagerfriedhöfen zwar neue Gedenksteine errichtet worden. Die weite Opfergruppen ausschließenden Formulierungen stellten aber eine „in Stein gemeißelte Herabwürdigung der Toten“ dar (S. 218). Die Emsland-Lagergemeinschaft bemühte sich weiterhin um eine Anerkennung als NS-Opfer und versuchte – auch über befreundete „Moorsoldaten“ in der DDR mit Verbindungen ins Ministerium für Staatssicherheit – Dokumente zur Lagergeschichte zusammenzutragen. Die Aufnahme der Strafgefangenenlager als KZ-ähnliche Haftstätten ins Bundesentschädigungsgesetz erfolgte 1970 aber anscheinend unabhängig davon.

Das sechste und letzte Hauptkapitel (S. 223–270) umfasst den weitaus längsten Zeitabschnitt: von der Entstehung einer ersten Gedenkstätteninitiative bis zur Eröffnung der Gedenkstätte Esterwegen (1974–2011). Studierende aus Oldenburg begannen sich mit den Emslandlagern auseinanderzusetzen – auch durch „Spurensuche vor Ort“ (S. 232). Gemeinsam mit lokalen Akteuren entstand daraus ein Aktionskomitee für ein „Dokumentations- und Informationszentrum Emslandlager“ (DIZ), welches 1985 seine Arbeit aufnahm. Düben beleuchtet vor allem die politisch linke Einstellung der Akteure, durch die sich eine thematische Engführung auf das Schicksal kommunistischer Häftlinge ergeben habe, die „den Blick für die Vielstimmigkeit der Gedächtnisgeschichte“ getrübt habe (S. 234). Neben verschiedenen Gegenbeispielen übersieht sie allerdings, dass die Hinwendung zur Geschichte der NS-Opfer Ende der 1970er-Jahre ein neues, noch nicht ausdifferenziertes Phänomen war.

Der zweite Kapitelabschnitt beleuchtet zunächst das konfliktbehaftete Verhältnis zwischen dem DIZ und dem Landkreis Emsland. Dieser hatte zu Beginn der 1980er-Jahre eine kommentierte Quellensammlung in Auftrag gegeben, die zwar einen immensen Fundus an Verwaltungsakten lieferte, die Perspektiven der Häftlinge aber weitgehend ausklammerte und den Lagerkomplex als „von außen in die abgelegene Moorlandschaft eingepflanzt und hier verwirklicht“ ansah.2 Für die 1990er-Jahre beschreibt die Autorin hingegen eine Annäherung der Akteure, da sich an der Verstetigung des DIZ auch der Landkreis beteiligte. Dies sieht sie vor allem im „Generationswechsel auf kommunaler Ebene“ begründet (S. 257), den sie an der Person des Oberkreisdirektors Bröring festmacht. Als späterer Landrat war dieser maßgeblich an der Einrichtung der 2011 eröffneten, vom Landkreis getragenen Gedenkstätte Esterwegen beteiligt, in der das DIZ als Kooperationspartner weiterhin angesiedelt ist.

Dübens Studie folgt einem grundsätzlich begrüßenswerten Trend zu schmaleren Dissertationen. Der großangelegte Betrachtungszeitraum und die fortgesetzte Rückbindung an allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen führen allerdings dazu, dass eine quellengesättigte Darstellung der regionalen Spezifika oft nicht erfolgt. Während der Umgang mit den Lagerfriedhöfen überzeugend dargestellt wird, fehlen an anderen Stellen Beispiele, etwa wenn eine angeblich breite Leserbriefdebatte mit einem einzelnen Beitrag abgehandelt wird. Zudem enthält die Arbeit schwer erklärbare Fehler, wenn beispielsweise von der Reichstagsbrandverordnung als „dem sogenannten Schutzhaftbefehl“ (S. 39) gesprochen wird. Von den drei „unter militärgerichtlicher Hoheit stattfindenden Prozessen“ (S. 91) wurde einer vor einem deutschen Landgericht verhandelt. Der britische Husum Case zu den KZ-Außenkommandos im Emsland wird hingegen ebenso wenig erwähnt wie 32 Prozesse vor deutschen Gerichten zwischen 1947 und 1959, obwohl sich eine Aufstellung sämtlicher Prozesse im rezipierten Ausstellungsband der Gedenkstätte Esterwegen findet.

Angesichts des langen Untersuchungszeitraums ist eine Auswahl von Themenfeldern unausweichlich; diese wirkt allerdings stellenweise willkürlich. So bricht der prominent eingeführte Untersuchungsstrang der Emslandkultivierung Ende der 1940er-Jahre abrupt ab. Gerade die mit dem Emslandplan ab 1950 einsetzende umfassende Erschließung bildete für die Region aber eine Erfolgsgeschichte, in der eine Erinnerung an die Lager als Vorläufer kaum Platz finden konnte. Dies hätte durchaus neue Erkenntnisse für die bundesdeutsche Erinnerungskultur geboten, insbesondere durch Rückbindung an die ebenfalls unberücksichtigte Heimatgeschichtsschreibung. Eine Leerstelle bleibt zudem die erinnerungskulturelle Arbeit des DIZ, die mit einem kurzen Verweis auf dessen Schriftenreihe und die Betreuung von Schulklassen abgehandelt wird. Für die Gedenkstättenarbeit zentrale Felder wie Überlebendenkontakte, Gedenkfeiern, Sammlungstätigkeit und Ausstellungsarbeit fehlen hingegen.

Vor allem führt aber der eng gefasste Akteursbegriff dazu, dass als Gegenpol zu den „Gedenkwilligen“ (meine Formulierung) fast ausschließlich Vertreter der Kreispolitik beleuchtet werden. So liefert die Arbeit gute Einblicke in die Erinnerungs- und vor allem Friedhofspolitik, erklärt letztlich aber nicht das Entstehen einer „breiten zivilgesellschaftlichen Gedenkstätteninitiative“ (S. 253) aus der ortsansässigen Bevölkerung heraus. Erst das gelungene Fazit von Ann Katrin Dübens Studie fängt diese Leerstellen sowie auch die unterschiedlichen Perspektiven und Beweggründe der „vielfältigen Gedächtnis- und Vergessensgemeinschaften“ (S. 271) in Teilen wieder ein.

Anmerkungen:
1 Bernd Faulenbach / Andrea Kaltofen (Hrsg. im Auftrag der Stiftung Gedenkstätte Esterwegen), Hölle im Moor. Die Emslandlager 1933–1945, Göttingen 2017; Bianca Roitsch, Mehr als nur Zaungäste. Akteure im Umfeld der Lager Bergen-Belsen, Esterwegen und Moringen 1933–1960, Paderborn 2018. Zu meiner eigenen Beschäftigung mit dem Thema siehe David Reinicke, Die ‚Moor-SA‘. Siedlungspolitik und Strafgefangenenlager im Emsland 1934–1942, Göttingen 2022.
2 Erich Kosthorst / Bernd Walter (Hrsg.), Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Dritten Reich. Beispiel Emsland. Dokumentation und Analyse zum Verhältnis von NS-Regime und Justiz, 3 Bde., Düsseldorf 1983, hier Bd. 1, S. 4.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch